Eine Industrialisierungskampagne löst im russisch besetzten Lodz 1820 einen Gründerboom aus in dessen Folge im "Manchester Polens" eine multikulturelle Sozialisation aus Russen, Juden, Polen, Deutschen und anderen Nationalitäten entsteht.
Das Foto zeigt eine jüdisches Geschäft in Lodz. Der Name des Inhabers steht in kyrillischen und in lateinischen Lettern über dem Schaufenster, A.Trautwein. Sein Angebot ist dreisprachig: Kaviar, Wein, Wodok (Wodka) aus Moskau, Konserwy, Kaffee, Herbata (Tee) – eine „Kolonialwaaren-Handlung“. Dreisprachig sind in Lodz auch die Zeitungen, die Programmzettel der Theater, die Gesellenbriefe und die Aktien. Ein tolerantes Modell zeigt im
russisch regierten Polen, wie ein Multikultikonzept funktionieren kann, wenn sich die wirtschaftlichen Motive der handelnden Parteien ergänzen. Nach dem Wiener Kongress sind zwischen dem von Preußen regierten Großpolen und dem vom russischen Zaren regierten Königreich Polen, Zollgrenzen errichtet worden, die die Einfuhr von Textilien extrem erschweren. Um 1820 startet das Königreich Polen eine Kampagne und erklärt eine Reihe von Ortschaften in Masowien per Dekret zu Fabrikstädten. Eine davon ist das 800-Einwohnerstädtchen Lodz. Wenn Zuwanderer in Lodz Textilunternehmen gründen, erhalten sie neben kostenlosem Land, Krediten und Steuerermäßigungen auch politische Freiheiten. Sie werden vom Wehrdienst befreit, können verschiedene Vereine zur Traditionspflege gründen, ihre Nationalität und ihre Religion pflegen, müssen kein Polnisch sprechen. Es kommen Deutsche, Schweizer, Franzosen, Tschechen/Böhmen, Juden. So strömen lange bevor
polnische Arbeiter nach Berlin, Sachsen und ins Ruhrgebiet ziehen, deutsche Migranten nach Zentralpolen. Zwei von ihnen sind die ersten Bürgermeister der Stadt. Die Bevölkerung von Lodz steigt in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts von 800 auf nahezu 5000 Einwohner, 1841 sind es schon 20 000. Dominierend sind zunächst deutsche Fabrikanten wie
Ludwig Geyer (aus Berlin), Ludwig Grohmann, Johann Gottlob Eisert (aus Sachsen), Karl Gottlieb Steinert (aus Chemnitz) und Karl Scheibler (aus Monschau bei Aachen). Scheiblers Unternehmen ist eine Stadt für sich. Neben den Fabrikgebäuden und dem Scheibler-Palast entstehen Arbeitersiedlungen, ein Krankenhaus, Schulen, die Feuerwehr, Kirchen. Fast 5000 Arbeiter sind bei Scheibler beschäftigt, eines der größten Textilunternehmen der Welt. Sein Vermögen wird auf die damals schwindelerregende Summe von 16 Millionen Rubel geschätzt. Die Zuwanderung hält an. Noch im Jahr 1864 sind von den 3725 qualifizierten Textilarbeitern der Region 352 aus Sachsen und 326 aus Preußen gebürtig, weitere 44 aus Hessen und 34 aus Baden. In wenigen Jahrzehnten entsteht in Lodz eine riesige Textilindustrie, neben den prachtvollen Fabriken prunken die Paläste der Textilunternehmer. Neben den deutschen sind die jüdischen Fabrikanten die
erfolgreichsten. Schaja Rosenblatt (in Lodz geboren), Markus Silberstein (aus Tomaszow), Izrael Poznanski (aus Aleksandrow). Bis 1945 sind ein Drittel der Bevölkerung in Lodz Juden und ein Viertel Deutsche. Im „Manchester Polens“ entwickelt sich ein Vielvölkerkultur, die erst durch die faschistischen Gräueltaten des 2.Weltkrieges vernichtet wird.
Bis dahin leben hier deutsche, polnische, russische, böhmische und jüdische Arbeiter und erwirtschaften für deutsche, polnische und jüdische Unternehmer einen enormen Reichtum. Im Lodz des 19.Jahrhunderts gibt es alles viermal, vier Kirchen, eine russische, eine jüdische, eine polnische, eine deutsche. Das Gleiche gilt für Friedhöfe, Zeitungen, Theater, Krankenhäuser. Schulen sind getrennt nach Nationen und Konfessionen. Es gibt kaum Konflikte, die Ethnien leben in einer toleranten Symbiose. Manchmal gibt es sogar kollektive oder solidarische Aktionen, gemeinsame deutsch-polnisch-jüdische Konzerte bringen Geld für eine städtische Feuerwehr, Deutsche und Juden spenden Geld für den Bau einer russisch-orthodoxen Kirche.